Leseprobe
Vorwort
Diese Welt war auf Blut erbaut.
Ganze Ströme hatten über Jahrhunderte Felder und Städte getränkt. Es färbte Erde und Stein dunkelrot und wurde somit zum Fundament von Macht und Erinnerung.
Die rote Flüssigkeit entschied über Sieg und Niederlage, über Leben und Auslöschung.
Menschen und Dämonen befanden sich im Krieg miteinander, seit so langer Zeit, dass sein Ursprung längst in Vergessenheit geraten war. Sie kämpften um Herrschaft, um Ressourcen, um den Fortbestand ihrer Art.
Die Dämonen, langlebig und mächtig, beherrschten Kräfte, die wie Magie wirkten und die Menschen über Generationen hinweg das Fürchten lehrten. Manche nutzten sie, um die Welt nach ihrem Willen zu beugen – andere, um sich an den Schwächeren zu nähren.
Die Menschheit setzte ihre Überzahl dagegen. Ganze Völker erhoben sich in Heeren, versuchten die Dämonen auszulöschen, und doch bezahlten beide Seiten das nicht enden wollende Massaker mit unzähligen Opfern.
Unter ihnen aber gab es jene, die sich dem Blutvergießen widersetzten. Außenseiter, neugierig und unerschrocken, die an etwas anderes glaubten als an Tod und Zerstörung. Sie fanden Wege, sich zu verbünden – und Kinder zu zeugen, die nicht vollends Mensch und auch nicht ganz Dämon waren. Hybride. Ein neues Volk, geboren aus der Hoffnung auf Frieden.
Ihre Existenz spaltete die Welt.
Manche sahen in ihnen die Zukunft, andere Verrat am eigenen Blut. Verbote wurden erlassen, weitere Kriege geführt, immer im Namen der Reinheit und Tradition.
Erst aus dem großen Pakt erwuchs eine fragile Einigung: Menschen und Dämonen legten Regeln fest, die Vermischung wurde erlaubt, Diskriminierung verboten, alte blutige Rituale verbannt.
Das postpaktische Zeitalter begann – eine Ära des Fortschritts, der Wissenschaft, des Wiederaufbaus. Und in dieser neuen Welt entwickelten sich Städte, die von diesem Frieden profitierten. Unter ihnen stach eine besonders hervor: Velvaris.
Einst ein Zufluchtsort für Verstoßene, wandelte sie sich zur Handelsmetropole, in der Kulturen aufeinandertrafen und sich vermischten. Fremde wurden in der Regel mit offenen Armen empfangen, solange sie der Gemeinschaft dienlich waren und das respektvolle Miteinander akzeptierten. Menschen, Dämonen und Hybride lebten hier Tür an Tür, alte Häuser lehnten sich an neue Bauwerke, Industrien wuchsen neben Gassen voller Tradition. Velvaris spiegelte die ganze Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Welt wider – ein Ort des Wandels, aber auch voller Spannungen. Denn Blut blieb ihr Fundament.
Den Frieden aufrecht zu erhalten und das Zusammenleben aller Spezies zu gestalten erwies sich jeden Tag aufs Neue als eine nicht endende Herausforderung, der sich viele Einwohner immer wieder aus tiefster Überzeugung stellten.
Kyle Corebound war einer von ihnen und er sollte sehr bald feststellen, dass viele Dinge in dieser Welt zerbrechlich waren. Und das traf nicht nur auf seine schlechte Kampfausrüstung zu.
Die erste Begegnung
Es vergingen weitere zwei Tage, ehe Kyle das Rätsel um den Standort von The Hollow Flame endlich lösen konnte. In den späten Abendstunden fand er sich vor einem metallenen Rolltor wieder. Das Mauerwerk des umgebenden Gebäudes war von Ruß geschwärzt.
Die vermeintliche Schmiede befand sich in einem Stadtteil, der nicht allzu weit von Kyles Wohnung entfernt war, den er aber bisher nie wirklich bewusst besucht hatte. Denn das Westviertel war nicht besonders bekannt für Sehenswürdigkeiten, nicht oft von Dämonen heimgesucht und auch sonst eher alt, zerfallen und unscheinbar. Unglaublich, dass eine so besondere Schmiede zwischen diesen alten Wohn- und Gewerbegebäuden versteckt sein sollte. Aber hier war er nun.
Kyle berührte das Metall des Tores mit seinen Fingerspitzen und lauschte. Die etwas rostige Oberfläche war warm. Die Luft um ihn herum vibrierte leicht – als würde eine immense Kraft hinter diesen Mauern gerade so im Inneren des Gebäudes gebändigt werden.
Der Amateurjäger trat einen Schritt zurück und betrachtete die großen, weißen Buchstaben oberhalb des Tores. The Hollow Flame – mehrfach nachgemalt mit einem Pinsel und wenig Sorgfalt. Nicht sonderlich Vertrauen erweckend, aber definitiv der richtige Ort. Kyles Puls beschleunigte sich, er war aufgeregt und konnte es kaum erwarten.
Er bemerkte aus den Augenwinkeln eine schmalere Tür rechts neben dem Tor. “Ist das der Eingang? Hat der Mann Öffnungszeiten oder sowas?” Als der Jäger keine weiteren Anhaltspunkte vorfinden konnte, drückte er kurzerhand gegen die Tür, die daraufhin unerwartet leicht und geräuschlos aufsprang.
Was sie freigab, war eine vermeintlich chaotische Szene aus Rauch, Flammen und Metall. Mittendrin und hochkonzentriert schwang ein Mann einen großen, eisernen Hammer – es musste sich um Ezra handeln. Das Innere der Schmiede wirkte nahezu lebendig, und das obwohl dort nur dieser einzige Schmied zu arbeiten schien.
Funken tanzten im wilden Spiel aus Schatten und Licht. Die Luft roch nach Öl, Ruß und metallisch. Die Wände waren übersäht mit verschiedenen Werkzeugen, Material, Waffen oder Teilen. Vermutlich Ausstellungsstücke oder fertige Aufträge, das war schwer zu sagen. Alles wirkte wild zusammengewürfelt, doch Kyle wäre naiv gewesen, hätte er nicht gewusst, dass jeder Schmied, der etwas auf sich hielt, seiner ganz eigenen Ordnung folgte.
Ein schmaler Tresen trennte den Eingangsbereich von der Werkstatt. Kyle trat ein und sog alle Eindrücke in sich auf.
Die Esse neben dem Schmied brannte. Sein Shirt klebte an seinem verschwitzten Rücken, seine blasse Haut glühte warm im Schein des Schmiedefeuers. Das schulterlange Haar leuchtete fast schon unnatürlich weiß und war locker im Nacken zurückgebunden. Einzelne Strähnen hafteten an seinen feuchten Schläfen. In stetigem Rhythmus fuhr der Hammer in Ezras rechter Hand immer wieder auf dieselbe Stelle seines Werkstücks nieder, um es zu beugen.
Erst auf den zweiten Blick erkannte der Jäger, warum Nachbarn und Menschen im Westviertel dem Schmied vermutlich lieber aus dem Weg gingen. In der Luft um seinen Oberkörper herum schwebten feine rote Fäden. Kaum sichtbar und nur gelegentlich erleuchtet vom Schein des Feuers. Sie schienen durch den Raum zu tanzen und dann in die Klinge auf dem Amboss zu fließen und mit ihr zu verschmelzen.
Ist das sein… Blut?
Der Jäger beugte sich weiter über den Tresen vor und begann nach Hinweisen für seine Vermutung zu suchen. Er bemerkte feine Schnitte in Ezras linkem Unterarm – so fein, dass sie kaum zu sehen waren. Es war tatsächlich sein Blut.
So etwas Seltsames hatte er noch nie gesehen und er hatte schon viel erlebt. Wie ein uraltes magisches Ritual, so wirkte die Situation auf Kyle. Und je länger er diesen Ezra bei seiner Arbeit beobachtete, desto mehr fühlte er sich wie ein Fremdkörper, wie ein Eindringling, der unerlaubt heiligen Boden betreten hatte. Und doch – für eine ganze Weile gelang es ihm nicht seinen Blick abzuwenden. Der Dämonenschmied war… beängstigend und faszinierend zugleich.
Der Halbdämon sah unterdessen nicht ein einziges Mal zu ihm auf. Es war jedoch sehr unwahrscheinlich, dass er ihn nicht bemerkt hatte. Mit einer ziemlich großen Sicherheit sogar ignorierte er ihn wohl ganz bewusst.
Kyle verlagerte unsicher sein Körpergewicht, bevor er sich schließlich räusperte.
Keine Reaktion.
Er versuchte es ein weiteres Mal etwas lauter.
Immer noch nichts.
Merklich ungeduldiger bellte er “Hey!”.
Der Schmiedehammer hielt mitten im Schwung inne. Der Halbdämon drehte seinen Kopf sehr langsam in Kyles Richtung. Scharfe glühend rote Augen fixierten den Eindringling, so als wäre der Jäger seine nächste Beute.
Kyles Atem stockte ihm in der Kehle. Ezra ließ den Hammer sinken und richtete sich zu voller Größe auf. Die roten Fäden um ihn herum verschwanden nicht. Sie schwebten lebendig in der Luft und warteten geduldig auf ihren weiteren Einsatz.
“Was?” Erklang seine raue Stimme, genervt und bedrohlich zugleich.
Kyle straffte seine Schultern und versuchte die Anspannung mit Bravour zu überspielen. “Mein Name ist Kyle Corebound. Und ich will, dass du mir eine Waffe schmiedest.”
Der Angesprochene blinzelte einmal, schnaubte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
“Ich schmiede nicht für Menschen. Verschwinde.” Sein Tonfall war nun gleichgültig, als würde er lästigen Staub von seinem Tresen wischen.
Echt jetzt!?
Kyles körperliche Anspannung nahm zu, während er einen Schritt in Ezras Richtung machte. “Ich meine es ernst.”
Der Jäger spürte einen Hauch von Bewegung in der Nähe seines Augenwinkels, ehe seine Wange brannte, als hätte er sich an der Kante eines Blatt Papiers geschnitten. Instinktiv fasste er sich ins Gesicht und spürte Feuchtigkeit.
Wie hat er das gemacht!?
Sein Blick wanderte kurz zu seinen blutroten Fingerspitzen und dann zurück in die harten Augen seines Gegenübers. Anstatt zurückzuweichen, erwiderte er den Blick des Dämons entschlossen.
“Und ich sagte,” wiederholte der Schmied, nun mit mehr Nachdruck, “Ich mache keine Geschäfte mit Menschen.”
Der Schwarzhaarige atmete tief durch, was ihm allerdings von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel. Die Luft in der Schmiede wirkte auf einmal heißer als zuvor, stickiger. Das Feuer knisterte lautstark über schwarzen Kohlen. Das Blut auf seiner Wange kitzelte, während einige Tropfen lautlos zu Boden fielen. Ein für Kyle unendlich langer Moment verging, in dem sich die beiden Männer schweigend anstarrten. Dann entschied der Jäger, dass er zum falschen Zeitpunkt gekommen war und sein Glück heute nicht weiter herausfordern sollte.
Zeit für einen Strategiewechsel.
Er drehte sich um, schritt langsam zur Tür. Bevor er in die erlösende kühle Nachtluft hinaustrat, sah er noch einmal über seine Schulter und verkündete ein verheißungsvolles “Ich komme wieder,” woraufhin er die Tür hinter sich und seinem vermeintlichen Versprechen ins Schloss fallen ließ.
Der Halbdämon stieß ein müdes Seufzen aus, ehe sein Blick zurück zu der Klinge wanderte, die auf seinem Amboss noch schwach glühte. Er hasste es unterbrochen zu werden. Vor allem von so einem dahergelaufenen… was stellte der eigentlich dar? Einen Dämonenjäger? Ja, ab und zu traf er auf diese ambitionierten Menschen, die sich in dem Business versuchten. Völlig verrückt waren die.
Allerdings, neben seinem offensichtlichen Übermut, war dieser Mensch ziemlich abgebrüht gewesen. Nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte er, als Ezra nachdrücklich seinen Standpunkt klar gemacht hatte.
“Wie dem auch sei…”, der Schmied machte sich wieder an die Arbeit, betrachtete sein Werkstück und drehte es mit der Zange im gedimmten Licht umher. Er erwischte sich dabei, wie seine Gedanken wieder und wieder zurück zu dem kleineren, schwarzhaarigen Menschen wanderten. Vielleicht war er doch anders als die anderen?
Da waren diese blauen Augen – sie schienen durch ihn durch ein Ziel weit weg am Horizont fixiert zu haben, das er unbedingt erreichen wollte. Und sie waren so klar und unnachgiebig, dass es Ezra sogar ein wenig beeindruckt hatte. Und irgendetwas war da noch, aber so recht konnte er es nicht fassen.
Viele vor ihm hatten in Vergangenheit an seine Tür geklopft und um eine Waffe gebettelt. Manche mehr, manche weniger verzweifelt. Eine Klinge, die ihnen dabei helfen sollte über sich hinaus zu wachsen. Wenige von ihnen hatten seiner Meinung nach auch nur im Ansatz begriffen, was es wirklich bedeutete eine solche Waffe zu führen.
Der Blutdämon rollte mit den Schultern und tat sein Bestes die Gedanken zu verdrängen. Vor ihm lag eine lange Nacht und den Typen würde er wahrscheinlich so schnell nicht wieder sehen.
***
Das fahle Morgenlicht, dass langsam begann durch die Oberlichter zu kriechen, ließ die Schmiede kälter wirken, als sie eigentlich war. Der Ofen glühte nach wie vor, aber schwächer. Ezra hatte die ganze Nacht durchgearbeitet. Etwas, was er häufiger tat – zu später Stunde gab es weniger Ablenkungen (wenn man von durchgeknallten Menschen absah) und im nächtlich meist leerstehenden Industrieviertel musste er sich auch keine Gedanken über Ruhestörungen machen.
Der Dämonenschmied legte den Hammer zur Seite und bereitete sich mit dem Enthusiasmus einer schlaflosen, aber produktiven Nacht darauf vor, seine Werkstatt noch einmal durchzulüften, bevor er sich seine wohlverdiente Dusche gönnen und endlich etwas Schlaf nachholen würde. Die Regeneration eines Hybriden verlief um einiges schneller als die von Menschen, ganz ohne Schlaf kamen aber auch sie nicht aus.
Der Dämon streckte sich und gähnte dabei halbherzig in seinen Handrücken. Seine scharfen Eckzähne blitzten im hellen Tageslicht auf und die allmählich ansteigende Helligkeit blendete seine erschöpften Augen.
Das silber-weiße Haar war ein Desaster aus krausen und verschwitzten Strähnen, die in den Stunden zuvor mal eine funktionale Frisur gewesen waren. Kalter Schweiß klebte überall an seinem Körper und er konnte es kaum erwarten sich zu reinigen.
Als er begann, das große Schiebetor zu öffnen, waren seine rubinroten Augen halb geschlossen und boten keine Spur von dem scharfen und berechnenden Blick, den er sonst aufsetzte und der ihm seinen mehr oder weniger guten Ruf beschert hatte.
Er war noch nicht bereit für Sonnenlicht.
Oder Stimmen.
Oder Menschen.
Vor allem aber nicht für die Gestalt, die direkt an seiner Schwelle stand. Wie war nochmal sein Name? Er hatte sich nicht vorgestellt in der Nacht, oder doch? Ezra starrte ihn an.
Der Mensch lehnte an der Hauswand, die Hände in den Taschen seiner eng geschnittenen Cargohose.
Er strahlte eine Lässigkeit aus, die im starken Widerspruch dazu stand, wie er vor gerade mal wenigen Stunden offiziell der Schmiede verwiesen wurde. Auf seinem Kopf thronte dieselbe dunkelgraue Strickmütze, tief in die Stirn gezogen. Einige seine ungebändigten schwarzen Strähnen lugten hervor, standen in verschiedene Himmelsrichtungen ab und umspielten seine Wangen.
Trotz der frühen Stunde gab er sich unerhört aufmerksam – erfrischt, vorbereitet und unbeeindruckt von dem starren Blick des Dämons, der auf ihm ruhte. Stahlblaue Augen starrten zurück in Rote.
Ezra kniff die Augen stärker zusammen. Sein Gehirn benötigte einen Moment, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Es waren nicht einmal zwölf Stunden vergangen.
Er hatte den… Kerl? Dämonenjäger? nicht so früh zurückerwartet.
Die meisten Leute, die er verwarnte, kamen nie wieder. Und jene, die es doch taten, sammelten sich erst einmal einige Tage, bevor sie ihm ihre Verzweiflung erneut präsentierten.
Aber dieser hier?
Er sagte, dass er wieder kommen würde.
Und offenbar meinte er sofort.
Ezra schnaufte wenig amüsiert, die Müdigkeit nagte bereits an ihm.
“Ernsthaft?”, krächzte er, die Stimme noch rau von der Nacht.
“Es ist Morgen.”
Der ungebetene Besucher öffnete den Mund – entweder für eine dumme Bemerkung oder eine umfangreiche Elaboration der Gründe seiner Anwesenheit – aber Ezra fiel ihm direkt ins unausgesprochene Wort.
“Ich habe geschlossen.” war seine barsche Absage, als er das gerade geöffnete Tor direkt vor der Nase des Jägers wieder zurückschob und verriegelte.
“Und es bleibt bei Nein!”
Dies sollte seine endgültige Antwort zementieren.
Der Dämon machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in Richtung seiner privaten Räume, um sich der Dusche zu widmen, die er jetzt dringend brauchte.
“Hartnäckiger Bastard…“
In dem kleinen Badezimmer betrachtete er kurz missbilligend seine eigene Erscheinung. Genervt von der Tatsache, dass der Eindringling offenbar mehr Schneid besaß als so manch hohes Dämonenarschloch. Der Typ war tatsächlich zurückgekommen.
Und verdammt noch mal, er würde es zweifellos wieder tun.
***
Das goldene Licht der untergehenden Nachmittagssonne verwandelte das Westviertel mit seinen alten Hallen und kleinen Werkstätten in eine beinahe romantische Idylle. Die Luft kühlte sich langsam ab und die meisten Türen und Tore waren geschlossen, oder würden es in unmittelbarer Zukunft sein. Gegenüber der Schmiede befand sich eine kleine Autowerkstatt und der Geruch von oxidiertem Metall und Motoröl lag in der Gasse. Überdeckt wurde dieser jedoch von einer weitaus angenehmeren Mischung aus Knoblauch und geschmolzenem Käse, ein Duft, der sich wie eine leise Rebellion durch die Nachbarschaft schlängelte.
Kyle Corebound stand erneut vor der Eingangstür der Hollow Flame. Eine Hand war vergraben in der Tasche seiner Jacke, in der anderen hielt er eine in Folie eingewickelte, frisch frittierte Calzone. Heiß genug, um kleine Dampfschwaden von der Alufolie aufsteigen zu lassen. Er trippelte von einem Fuß auf den anderen und ließ seinen Blick über die rußverschmierten Fenster schweifen.
Er hatte die letzten Tage und Nächte genutzt, um das zu tun, worin er am besten war – Informationen über Dämonen sammeln – nur dass es sich diesmal nicht um seine Beute handelte. Zumindest nicht direkt. Zunächst hatte der Jäger sich mehr in der unmittelbaren Umgebung aufgehalten. Er beobachtete die Schmiede an sich, die umgebenden Läden und Häuser. Merkte sich Gesichter und Gestalten.
Wer ging wo ein und aus, wer lebte in unmittelbarer Nähe oder war oft zu sehen? Wohin gingen die Anwohner für das Feierabendbier? Wann erloschen die Lichter in der Werkstatt, wie war Ezras Tagesrhythmus?
Ab und zu traute er sich in die Schmiede oder an die Fenster, vor allem wenn das große Tor offenstand. Er lungerte wie ein Schatten in Ezras Umkreis herum, sprach ihn aber nie an.
Ezra wiederum bemerkte ihn nicht und wenn er es tat, ignorierte er ihn einfach.
Dann widmete er sich beiläufigem Smalltalk in der Gegend. Eine Frage hier, ein paar Scherze dort. Ein paar Drinks und Gefälligkeiten später fing die Nachbarschaft endlich an geschwätziger zu werden, zumindest der Teil, der sich bei der Erwähnung von Ezras Namen nicht direkt zu kreuzigen begann.
Niemand wusste so recht, wer oder was Ezra genau war.
“So ein Halbblut-Zeug”, hatte jemand ihn aufzuklären versucht, “Hauptsächlich dämonisch. Gefährlich, aber nicht von der mörderischen Sorte, außer man stört ihn bei der Arbeit.”
Das erklärte einiges, Kyle vermerkte sich diesen letzten Halbsatz im Hinterkopf.
Ein anderer beschrieb ihn als besonders besitzergreifend in Bezug auf seine Arbeiten. Manchmal weigerte er sich strikt seine Waren nach Fertigstellung herzugeben, selbst wenn er dazu beauftragt wurde, sollte sich sein glückloser Kunde aus irgendeinem Grund für ihn als unwürdig erweisen.
Ein dritter bezeichnete ihn als “gottloses Genie” und wollte danach keinen Blickkontakt mehr aufnehmen.
Worüber sich allerdings alle einig waren: Ezra verließ seine Schmiede so gut wie nie. Er schien auch nicht zu schlafen, zumindest nicht viel. Er arbeitete durchgehend und wenn er mal nicht arbeitete, bereitete er sich auf seine kommende Arbeit vor. Er war wie eine in Fleisch und Blut übergegangene Maschine.
Kyle wusste nicht, ob so ein Verhalten in der Natur von Dämonen lag oder ob Ezra einfach ein übermäßiger Workaholic war, doch die Erkenntnisse deckten sich mit seinen eigenen Beobachtungen.
Er hatte den Dämon nie seine Schmiede verlassen oder etwas essen sehen. Er sah ihn nie pausieren, Wasser trinken, mal frische Luft schnappen oder einkaufen gehen. Alles, was er wahrnahm, war der konstante Rhythmus seines Hammers auf dem Amboss, die Wärme und das Knistern des Feuers in verschiedenen Temperaturstufen. Und die geheimnisvollen roten Blutfäden, die allgegenwärtig waren, während Ezra konzentriert arbeitete.
Es war beeindruckend, wenn nicht sogar bewundernswert. Aber es war gleichzeitig auch beunruhigend. Als würde man jemanden dabei beobachten, wie er vergaß, dass er einen Körper aus Fleisch und Blut besaß.
Aus diesem Grund entschloss Kyle sich dazu ein überzeugendes “Geschenk” zu besorgen. Nichts Besonderes, nur heiß, fettig und köstlich.
Die Eingangstür war zu, aber nicht verschlossen, Kyle schob sie mit seiner Schulter zur Seite. Eine Wand aus Hitze schlug ihm unmittelbar entgegen, gemischt mit dem vertrauten Geruch von Blut und geschmolzenem Metall. Im gedimmten Feuerschein sprühten Funken und inmitten dieser stand er – wie jedes Mal – Ezra.
Seine nackten und muskulösen Arme angespannt, sein Fokus ungebrochen und auf das Werkstück gerichtet und ein Rußfleck auf einem seiner hohen Wangenknochen, der ihn wie einen Krieger wirken ließ.
Hatten die Anwohner der Gegend eigentlich je erwähnt, wie unsäglich attraktiv dieser Bastard war, oder ging es nur ihm so?
Der Dämon blickte, wie gewohnt, nicht zu ihm auf.
Kyle räusperte sich. “Du kommst wirklich nicht zum Luft holen, oder?”
Immer noch keine Reaktion.
Er trat weiter in die Schmiede hinein. “Ich dachte, dass du vielleicht etwas zum Beißen gebrauchen könntest. Ich bin mir sicher, dass lebende Organismen sowas brauchen, um zu funktionieren. Selbst dämonische.”
Ezra hielt kurz inne, stoppte für wenige Sekunden seinen Hammer, zuckte. Dann folgte Stille.
So in etwa musste es sich anfühlen, wenn man versuchte das Vertrauen eines wilden Tieres zu gewinnen, das noch nie einen Menschen gesehen hatte und skeptisch vor dem Gitter seines Geheges lungerte.
Kyle streckte den Arm aus und hielt die Pizza mehr in seine Richtung, ohne sich weiter zu nähern.
“Frittierte Calzone, geiles Zeug und noch heiß. Mit Knoblauch, Käse und was auch immer heutzutage als Fleisch durchgeht. Du nimmst doch Nahrungsmittel zu dir, oder? Oder lebst du etwa nur aus purer Willenskraft?”
Das erregte dann doch die Aufmerksamkeit des Dämonenschmieds.
Der Blick, den Ezra ihm zuwarf, war zwar nicht von Verachtung geprägt, aber auch nicht dankbar. Seine roten Augen wanderten vom Gesicht des Menschen hin zu seiner ausgestreckten Hand und der darin befindlichen Opfergabe und dann wieder zurück in dessen abwartendes Gesicht. Der Dämon wirkte, als würde etwas abwägen, kalkulieren – Gewicht, Absicht oder vielleicht so etwas Absurdes wie Kyles Blutzuckerspiegel? Waren seine Augen gerade auf die Pizza gerichtet oder auf ihn?
Kyle spürte eine Welle aufkommender Hitze in sich und schrieb dieses Gefühl der Innentemperatur der Schmiede zu.
Im Bruchteil von Sekunden war der Dämon direkt vor ihm und ließ ihn aus Reflex einige Schritte zurücktreten. Ezra nahm die Calzone wortlos an sich. Seine Finger waren beschmiert mit Asche und übersäht mit Spuren von getrockneten roten Blutfäden. Als sich ihre Hände für einen kurzen Moment berührten, fühlte sich die Haut des Schmieds unnatürlich warm an.
Noch während Ezra sich von ihm abwandte, schob er Kyle die Tür mit einer Wucht ins Gesicht, die ihm die Nase gebrochen hätte, wäre er nur einen Schritt weniger zurückgewichen.
Moment, wann und wie war er so schnell rückwärts aus der Schmiede hinausgetreten? Er hatte es nicht einmal bewusst wahrgenommen.
Der Jäger starrte einen weiteren Augenblick auf die geschlossene Tür und blinzelte, dann presste er die Zähne zusammen. “Gern geschehen, Arschloch.”
Woraufhin er auf dem Absatz kehrt machte und dabei seine geballten Fäuste in seinen Jackentaschen vergrub. Er ließ den intensiven Knoblauchgeruch hinter sich, der im Dunst der Straße noch in der Luft hing.
Im Inneren der Schmiede sah Ezra noch etwas länger als nötig auf die Tür, hinter der sein hartnäckiger Stalker bis zuvor gestanden hatte und wandte sich dann seinem unverhofften Snack zu. Er hatte zwar nicht darum gebeten – aber er würde verdammt nochmal kein kostenloses Essen verkommen lassen. Vor allem nicht, wenn es ihm so bereitwillig an seine Haustür geliefert wurde.
Cyan kleidet Kyle ein
Cyans Boutique der Wahl wirkte wie ein Ort, der ausschließlich von Wesen aufgesucht wurde, die übertrieben teuren Wein tranken und noch niemals in einer Gasse einem Messer ausweichen mussten.
Aus den verdeckten Lautsprechern erklang gedämpfte Musik, irgendwie elektronisch und abstrakt, geradeso noch zu hören. Es roch nach Leinen und zerstoßenen Veilchenblättern.
Jeder Kleiderbügel hing mit dem exakt gleichen Abstand zum nächsten auf freistehenden Ständern, die eine neumodische Liaison aus Fabrikrohren und geöltem Walnussholz eingegangen waren.
Nichts hatte ein Preisschild und daher war Kyle sofort klar, dass er sich nichts davon leisten konnte.
“Dieser Laden ist viel zu teuer.” murmelte er mürrisch, die Arme vor der Brust verschränkt, während er noch im Eingangsbereich lungerte. Als wäre er allergisch auf Reichtum.
Cyan, auf der anderen Seite, schwebte bereits zielstrebig zwischen den verschiedenen Auslagen umher, als wäre er persönlich der Inhaber des Geschäfts. Sein langer Strickcardigan wippte im Rhythmus seiner weichen Schritte auf dem spiegelglatt abgestrahlten Betonboden. Er warf Kyle einen Blick über die Schulter zu und winkte ihn mit vorfreudig glitzernden Augen heran.
Der Plan war laut seinem besten Freund der Folgende: Mit dem perfekten Outfit einen wagemutigen Auftritt hinlegen und den Dämon nach allen Regeln der Kunst um den Finger wickeln.
“Alles am heutigen Tag geht auf mich.” er zwinkerte ihm wissend zu. “Wenn ich deine Chancen darauf erhöhen kann, endlich das Schwert deiner Träume in den Händen zu halten, dann lass mich.”
Kyle verdrehte die Augen.
“Wie das klingt…”
Ein verschmitztes Lachen.
“Das hast du dir selbst eingebrockt!”
Sie drangen weiter in das Innere des Ladens vor. Kyle versuchte sich für den Ärmel einer anthrazitfarbenen Jacke zu begeistern, in Gedanken plante er aber bereits einen möglichst lautlosen Abgang. Er vertraute Cyan zwar blind, dennoch wirkte die Unternehmung wie mit der heißen Nadel gestrickt und er konnte sich nur schwer vorstellen, dass so eine banale Abschleppgeschichte überhaupt die gewünschte Wirkung zeigen würde.
Cyan fuhr mit der Hand an einem Regal mit texturierten Mänteln entlang, berührte einen nach dem anderen. Dann wanderte sein analytischer Blick zu Kyle, der einige Meter hinter ihm kauerte.
Er beobachtete die Haltung seines Freundes, bemerkte die Anspannung in seinen Schultern, bemerkte, wie er immer wieder unbewusst am Saum seiner Kapuzenjacke zupfte, als wäre sie sein Schutzschild.
“Also,” begann Cyan eine lockere Unterhaltung, “dieser durchaus attraktive Schmied, du erwähntest, dass er nicht gerade… warmherzig ist?”
Kyle schnaubte. “Das kann man wohl sagen.”
Er studierte eine Wand mit langen schwarz-silbernen Jacken, die so gar nicht zum ihm passten. Er fuhr mit der Hand einen der Säume entlang, als könne er mehr Verständnis für Kleidung durch bloße Berührung erlangen.
“Ich muss ihn einfach überzeugen.” Die Worte standen für eine Weile unkommentiert im Raum. Leise, aber nicht minder dringlich.
Der Künstler nickte langsam und lächelte dann sanft.
“Sorgen wir dafür, dass du unwiderstehlich sein wirst! Für ihn, für das Schicksal – was auch immer da kommt.”
Kyle warf ihm einen düsteren Blick von der Seite zu.
“Ich wusste, dass das unangenehm werden würde.”
“Du wusstest es,” erwiderte Cyan völlig unbeeindruckt, “und trotzdem bist du immer noch hier.”
Kyle antwortete nicht darauf, aber seine Mundwinkel zuckten leicht.
Sein Freund widmete sich wieder der anstehenden Mission und bewegte sich fokussiert zwischen den Kleiderständern und Regalen umher. Er begann einzelne Teile herauszunehmen und im Detail zu betrachten. Eine figurbetonte anthrazitfarbene Jacke, ein weichfallendes schwarzes Hemd mit dezentem Glanz, eine schmal geschnittene Hose, dessen dunkles Material das Licht zu schlucken schien.
“Ein Outfit, dein Schicksal zu beugen.” der Künstler hielt eine weitere Jacke gegen das Licht, um sie mit der ersten zu vergleichen und folgte scheinbar einer für Kyle unsichtbaren Vision. “Eine Chance auf das Schwert deiner Bestimmung. Auf den Spiegel deiner eigenen Seele, geschärft und gestählt in feuriger Flamme. Das ist sehr romantisch.”
Kyle verzog das Gesicht. “Ernsthaft?” Er wurde das Gefühl nicht los, dass Cyan ihn begann wie eines seiner Kunstprojekte zu betrachten.
Der andere lächelte versöhnlich und hielt ihm die ausgewählte Kleidung ohne ein weiteres Wort hin.
Kyle nahm sie an sich.
“Wo genau nochmal planst du diesen geheimnisvollen Schmied zu verführen?”
Kyle verharrte unbeholfen in der Nähe der Umkleidekabinen, während Cyan weiterhin die zur Verfügung stehenden Optionen scannte.
“Also er geht angeblich in den Club, in dem ich auch manchmal bin. Devil’s Backbone. So ein Untergrundladen. Ein Mix aus Club und Bar.”
Der Künstler blickte von einem Halsband auf, dass er gerade inspiziert hatte.
“Eine Untergrundbar also? Mhm…” Er trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und betrachtete Kyle wie eine unfertige Skizze.
“Es ist dunkel, gedimmtes Licht. Dicke Luft. Die Musik laut genug, um deinen rasenden Puls zu überdecken.”
Er drehte sich um und fuhr mit den Fingern an weiteren Kleiderbügeln entlang, bis ihm ein Teil spontan ins Auge fiel.
Er zog es heraus – ein schmal geschnittenes, enganliegendes Jackett mit glattem in Leder abgesetztem Revers, dunkel. Im Licht schimmerte feines Metallicgarn, das in den Stoff gewebt war, kaum zu sehen, wenn man nicht ein Auge dafür hatte.
“Wenn er ein so guter Schmied ist, wie du sagst,” begann Cyan mit seiner analytischen Stimme “dann zeichnet er sich nicht nur durch Muskeln aus. Er sollte ein Auge fürs Detail haben, für Form. Für Schönheit – besonders für die potenziell Tödliche.”
Er hielt den Kleiderbügel höher und betrachtete seine Wahl mit Genugtuung.
“Du bist furchteinflößend, wenn du so drauf bist.” bemerkte Kyle, der einen tiefen Atemzug losließ, den er unmerklich eingehalten hatte.
“Warte, bis du es anprobiert hast!” grinste Cyan verschwörerisch.
***
Nach einem regelrechten Umkleide-Halbmarathon lautete Cyans Diagnose offiziell: Schwieriger Kunde.
Das erste Hemd lehnte Kyle direkt ab – zu viel Glanz. Das nächste ebenfalls – zu weich. Das dritte saß perfekt, zu perfekt – also viel zu verdächtig. Er pikierte sich über Kragenformen, Knopfdesigns, Nähte – an jedem Teil gab es mindestens eine Sache auszusetzen. Über ein paar blutrote Lederstiefel äußerte er sich obszön, obwohl Cyan sie nur ausgewählte hatte, um seine Fantasie etwas anzuregen.
“Dir ist schon klar, dass es unser Plan ist einen Dämon zu verführen, oder?” bemerkte Cyan ratlos mit einem Arm voll verworfener Kleidungsstücke.
“Ich will nur nicht wie ein absoluter Snob aussehen!” kam die entnervte Antwort aus der Kabine. Mit jedem weiteren merkwürdigen Stück Stoff, was laut Cyan als “modisch” durchgehen sollte, steinigte sich der Jäger innerlich umso mehr für diesen bescheuerten Plan. Am besten gaben sie es einfach auf. Kyle war ganz und gar nicht gut in sowas. Daran konnte auch jemand wie Cyan nichts ändern. Es konnte im Zweifel einen anderen Weg finden Ezra von sich zu überzeugen.
“Du siehst nicht aus wie ein Snob, sondern wie eine sehr scharfe Klinge, die in geschickte und erfahrene Hände gehört!”
Cyans nahezu gesungener Kommentar führte bei Kyle zu roten Ohren und einer Reihe unverständlicher, abfälliger Bemerkungen über Schwerter und Dämonen.
Letztendlich, nach einem regelrechten Krieg der Stoffe, belief sich der Kollateralschaden, neben Kyles Nerven, auch auf einen sehr geduldigen, aber mittlerweile recht müde erscheinenden, Verkaufsberater.
Cyan hatte natürlich am wenigsten gelitten, ihm machte das Ganze wahrscheinlich einen Heidenspaß und somit traf er nun auch seine endgültige Auswahl. Endgültig im Sinne von – Entweder du ziehst das an, oder du gehst, wie deine Mutter dich schuf – nämlich nackt.
“Also gut. Das ist es.”
Bei seiner Auswahl handelte es sich um das schmal geschnittene und sehr subtil mit Glanzfäden durchzogene dunkle Sakko, welches er bereits zu Beginn in die engere Auswahl genommen hatte. Er kombinierte es mit einem anthrazitfarbenen Slim Fit-Hemd mit gleichfarbiger Knopfleiste und einfachem, lässigem Kragen, sowie einer dunklen, raffiniert geschnittenen Hose aus weich fallendem, aber robustem Mischgewebe. Schmal an den Beinen, etwas weiter an den Hüften – für mehr Bewegungsfreiheit.
“Schlicht. Elegant. Taktisch. Und… sexy.” unterstrich er seine Präsentation mit einem Augenzwinkern. Bei genauerer Betrachtung der Hose kniff Kyle die Augen zusammen.
“Die sieht… komisch aus.”
“Die ist nicht komisch! – Du wirst schon sehen, vertrau mir einfach.”
Er hielt ihm noch ein paar monochrome, schwarze Ledersneaker hin, die er plötzlich wer-weiß-woher gezaubert hatte und die zu Kyles Erleichterung wenigstens recht bequem wirkten – und weniger spießig.
“Los los~!” Cyan schob ihn regelrecht Richtung Kabine, “ich muss sichergehen, dass ich diesen absoluten modischen Totalausfall noch retten kann!”.
Sein Grinsen dabei, für Kyles Geschmack, viel zu triumphierend.
Okay… was auch immer. Letzter Versuch…
Einige Minuten später, als Kyle fertig aus der Kabine trat, schienen die Alltagsgeräusche in der Boutique im Hintergrund verschwunden zu sein. Er selbst schwieg zum ersten Mal. Als er seine komplette Spiegelung in der Ecke neben den Kabinen sah, hielt er nahezu andächtig inne.
Das Licht illuminierte die verschiedenen Stoffqualitäten genau im richtigen Maß. Klare Linien, subtiler Glanz, perfekter Sitz – alles in allem war der gesamte Aufzug verdammt bequem, wie nur für ihn maßgefertigt. Kyle wirkte zum ersten Mal entspannt, als würde er sich endlich im Spiegel erkennen und nicht verkleidet fühlen. Als würde er sich sehen, wie er sich noch nie zuvor gesehen hatte.
Cyan, als er sich zu ihm wandte, erkannte den Ausdruck sofort und lächelte zufrieden.
“Komm mal her, Kyle.”
Der Jäger gehorchte wortlos und trat ihm gegenüber. Cyan schwieg und krempelte ihm die Ärmel der Jacke, sowie die darunterliegenden Hemdärmel gekonnt bis knapp unter die Armbeuge. Dann öffnete er die drei obersten Knöpfe des Hemdes, während er vor sich hinmurmelte und weitere “Optimierungen” vornahm.
“Besser so. Mhm. Freiraum fürs Atmen und die Aussicht auf mehr…”
Kyle hob eine seiner Augenbrauen, protestierte aber nicht.
Dann griff Cyan zu einem kleinen schwarzen Tablett, dass er in der Nähe abgestellt hatte und hielt es dem anderen hin.
“Bevor du dich wieder zum Spiegel drehst: Das Wichtigste – Accessoires.”
Auf dem Tablett lagen einige Armbänder zur Auswahl – Silber, Onyx und Leder. Minimalistische, dunkel gehaltene Designs, ebenfalls nicht allzu spießig.
“Wähle drei.”
Kyle studierte die Auswahl für einen kurzen Moment und tat, was Cyan ihm aufgetragen hatte.
“Gutes Auge.” nickte der Künstler zufrieden und nahm die gewählten Teile vom Tablett. Er legte mit schnellen und perfekt sitzenden Handgriffen ein silbernes Armband über ein Ledernes auf der einen und auf der anderen Seite Armschmuck aus Obsidian Perlen um seine freigelegten Handgelenke. Danach drehte er Kyle zum Spiegel, noch bevor dieser blinzeln konnte.
“Und jetzt sieh dich an!”
Kyle tat auch dies. Er hielt den Atem an.
Er nahm seine ganze Gestalt im Spiegel in sich auf.
Wie das Spiel aus Licht und Schatten seiner Figur schmeichelte. Cyan hatte das Hemd zum Teil wieder aus der Hose gezupft und es lugte nun unterm Saum der Jacke hervor – eine stille Rebellion gegen konservative Kleiderordnungen. Das gefiel ihm.
“Heilige Scheiße,” murmelte der Jäger, “…ich sehe tatsächlich aus, als wüsste ich, was ich tue.”
“Du siehst zum Anbeißen aus.” untermalte Cyan seine Aussage erfreut.
Kyle stellte mit Erschrecken fest, dass er tatsächlich sehr schnell, sehr rot werden konnte.
“Cyan…!”
“Ich meine ja nur!” Der Angesprochene lachte herzlich und legte noch einmal Hand an Kyles Erscheinung für ein paar letzte Details, dann legte er die Stirn kraus.
“Warte, da fehlt doch noch was.”
Er verschwand kurz in Kyles Kabine und schnappte sich seine fast vergessene Strickmütze, von einem Kleiderhaken. Dann fuhr er zielsicher Kyles lange Ponysträhnen entlang, zupfte sie sanft in Form und krönte sein Werk mit der charakteristischen Kopfbedeckung des Jägers.
“So! Jetzt ist es perfekt!”
“Shit.” raunte Kyle, “Ich hätte nicht gedacht, dass ich das hinkriege.”
“Genau genommen, hast du das auch nicht. Sondern ich, aber ich teile meinen Erfolg gerne.” Erneut ein breites Grinsen.
Kyle ging nicht näher darauf ein, schüttelte nochmal ungläubig den Kopf und widmete sich wieder seinem Spiegelbild, fast als hätte er ein anderes Wesen vor sich.
“Ich hätte nicht gedacht, dass ich so aussehen könnte…”
“Ich schon. Ich meine, hast du dich jemals wirklich angesehen?”
Kyle nickte abwesend und posierte zaghaft vor dem Spiegel, um sich aus allen Winkeln zu betrachten. “Ja man, ich wusste gar nicht, dass ich so ein Model bin.”
Als Antwort verschränkte der Künstler in einer dramatischen Geste die Arme vor der Brust und legte gespielt vorwurfsvoll den Kopf schief.
“Ich hab’s ja immer gesagt, wird Zeit, dass du endlich einsiehst, dass ich recht habe.”